Fibromyalgie-Syndrom – eine Erkrankung mit vielen Facetten
Das Fibromyalgie-Syndrom ist eine chronische Schmerzerkrankungen mit verschiedenen Begleitsymptomen, die betroffene Patient*innen erheblich in ihrem Alltag einschränken – ein komplexes Krankheitsbild welches sehr kontrovers in Diagnostik und Therapie betrachtet wird. Einer multimodalen Therapie gerecht zu werden, ist für behandelnde Ärzt*innen sowie Patient*innen eine Herausforderung unter Abwägung der medizinischen Notwendigkeit, der rechtlichen Rahmenbedingungen und der individuellen Beschwerden der Patient*innen.
Das Fibromyalgie-Syndrom besteht aus der Leitsymptomatik mit großflächigen Muskel-/Sehnenschmerzen, Abgeschlagenheit und Schlafstörungen. Im Verlauf der Erkrankung entwickeln sich verschiedene Begleitsymptome wie z.B. Morgensteifigkeit, Erschöpfungszustände, Reizdarm, Lebensmittelunverträglichkeiten, Sehstörungen und depressive Verstimmungen.
Das Krankheitsbild wird bisher im ICD-10–Katalog unter der Kennziffer M79.70 als eigenständige Erkrankung geführt. Im neuen ICD-11–Katalog wird das Fibromyalgie-Syndrom als „Chronisches ausgedehntes Schmerz- syndrom (MG30.01)“ mit anderen Schmerzsyndromen zusammengefasst [1].
In Deutschland sind ca. 3,2 Millionen Menschen an Fibromyalgie erkrankt. Die Erkrankung wird meist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr diagnostiziert. Bei Frauen tritt die Krankheit häufiger auf als bei Männern. Inzwischen zeigen sich auch schon bei Jugendlichen und jungen Erwachsene Fibromyalgie-Beschwerden. Die Folgen für Fibromyalgiepatient*innen sind sehr belastend und können viele Lebensbereiche im Alltag beeinträchtigen wie z.B. die berufliche Tätigkeit und die gemeinsamen Aktivitäten mit Familie und Freund*innen.
Als Ursachen kommen nach dem bio-psycho-sozialen Modell verschiedene Faktoren in Frage wie genetische Disposition, immunologische Prozesse, Veränderungen der Nervenstruktur in der Schmerzverarbeitung, negative Lebensereignisse, psychosoziale und körperliche Belastungsfaktoren, andere Grunderkrankungen und ein verändertes Stress-Abwehrsystem [2]. Auch die Persönlichkeit des Betroffenen kann dabei eine Rolle spielen. Hohe Ansprüche an sich selbst und Perfektionismus werden oft bei Fibromyalgiepatient*innen beobachtet. Es gibt daher keinen eindeutigen Mechanismus der Entstehung, was für Diagnosestellung und Therapiemaßnahmen eine Herausforderung für Ärzt*innen und Patient*innen darstellt.
Diagnostik
Das Fibromyalgie-Syndrom entwickelt sich schleichend über viele Jahre und es gibt derzeit keine beweisenden Untersuchungen. In unserer medizinischen Vorgehensweise werden beweisende Faktoren zur Diagnosestellung genutzt und nicht alleine die Symptome.
Bis zur Umstellung auf den ICD- 11-Katalog wurde die Diagnose „Fibromyalgie“ mit der Überprüfung der Tenderpoints, einer Labordiagnostik bestehend aus kleinem Blutbild, CRP, TSH, CK, Calcium, Vitamin D und einem Ausschlussverfahren bzgl. anderer Erkrankungen gestellt. Mit Einführung des ICD-11-Kataloges entfällt die Überprüfung der Tenderpoints und der Ausschluss anderer Erkrankungen ist nicht mehr zwingend notwendig, wenn keine anderen Erkrankungen vorliegen.
Das Fibromyalgie-Syndrom soll nach folgender Vorgehensweise diagnostiziert werden [3]. Im ersten Schritt ist eine körperliche Untersuchung notwendig, eine Anamnese und evtl. ein kleines Blutbild. Im nächsten Schritt wird die Symptomatik in Häufigkeit und Intensität nach den WPI (Widespread-Pain-Index) und dem SS score (Symptom Severity Score) ermittelt. Der Körper wird in 5 medizinische Regionen eingeteilt und dabei müssen 4 Körperregionen mit Schmerzen angegeben sein. Die Schmerzen müssen mindestens seit 3 Monaten anhaltend bestehen. Im letzten Schritt werden über einen speziellen Fibromyalgiefragebogen Symptome abgefragt, die nach Häufigkeit und Schweregrad ermittelt werden.
Abb. 1: Fibromyalgie-Syndrom – Ursachen, Symptome, Therapien.
Die Kriterien zur Diagnosestellung sind dann erfüllt, wenn folgende Bedingungen zutreffen:
- 4 von 5 Körperregionen sind mit anhaltenden Schmerzen betroffen,
- Schlafstörungen, kognitive Dysfunktionen und körperliche Symptome nach Häufigkeit und Schweregrad bestehen,
- Symptomdauer mindestens 3 Monate,
- Symptome sind nicht durch eine andere Diagnose erklärbar.
Ganzheitliches Therapiekonzept
Da es weder beweisende Faktoren noch eine eindeutige Ursache für das Fibromyalgie-Syndrom gibt, wird ein ganzheitliches Konzept als multimodale Therapie empfohlen. Die medizinischen Leitlinien [2] empfehlen eine multimodale Therapie mit bestimmten physikalischen Behandlungen, Bewegungstherapien, Thermalbäderanwendungen, welche mit Methoden der Schmerzbewältigung wie Entspannungstechniken, verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und Achtsamkeitstrainings kombiniert werden sollen. Dabei sollen die derzeitigen Symptome unter Berücksichtigung der individuellen Anforderungen berücksichtigt werden.
Bewegungstherapie
Die Bewegung und Beweglichkeit stellt die Basis des Therapiekonzeptes dar. Die Patient*innen sollen wieder selbst in Bewegung kommen. Fibromyalgie-Patient*innen berichten, dass sie Angst vor Bewegung haben, da sich die Schmerzen verstärken.
In verschiedenen Projekten wurde das Thema untersucht. Die Projekte wurden unter dem Thema „Kinesiophobie und Fibromyalgie“ durchgeführt. Die Tampa-Tabelle wurde dabei benutzt. „Kinesiophobie, die als Bewegungsangst beschrieben wird, reduziert die körperliche Aktivität und erhöht das Risiko chronischer Schmerzen“ [4,5].
Fibromyalgie-Patient*innen durch qualifizierte Anleitung wieder in die Bewegung zu bringen, reduziert den Schmerz, bringt wieder Lebensfreude und reduziert auch die Stresssymptomatik. Im Rahmen der Physiotherapie werden Krankengymnastik, geführte Bewegungsübungen und manuelle Therapien empfohlen. Zusätzlich werden physikalische Anwendungen wie Elektro-, Thermo- und Balneotherapie durchgeführt. Thermalbäderanwendungen ergänzen das Bewegungstherapiekonzept. Das Ziel der Bewegungstherapie ist, die Patient*innen wieder selbst in die Bewegung zu bringen, damit sie bewusst die Bewegung für einen stabilen Gesundheitszustand einsetzen.
Bewegung reduziert Schmerzen durch körpereigene Botenstoffe, verbessert das Herz-Kreislauf-System und führt zur Ökonomisierung der Herzarbeit. Der Glucoseeinstrom in die Muskelzellen wird verbessert, man fördert die humorale Immunabwehr, fördert die Schlafqualität, reduziert den Stress und unterstützt das persönliche Gewichtsmanagement [6].
Psychotherapie
Der Umgang mit dem diagnostizierten Fibromyalgie-Syndrom steht im Vordergrund und daher sollen Gewohnheiten aufgedeckt werden, um durch Veränderungsprozesse einen verbesserten Gesundheitszustand und Akzeptanz im persönlichen Umfeld zu erreichen. Biofeedback, Hypnotherapie und kognitive Verhaltenstherapien sind in Studien für Schlüsselsymptome wie Schmerz, Müdigkeit und depressive Stimmungslage in ihrer Wirksamkeit belegt worden [7]. Achtsamkeitsübungen sind wichtig, um Bewusstsein für Körper, Geist und Seele zu erlangen. Hier können z.B. Entspannungstechniken wie PMR (Progressive Muskelrelaxation), und AT (Autogenes Training) erlernt werden, die die Patient*innen selbst in häuslicher Umgebung durchführen können [2]. Die Stimulation des Parasympathikus kann durch Atemtechniken oder Meditation erfolgen.
Nach der Polyvagal-Theorie nach Prof. Dr. Stephen Porges können Körperübungen erlernt werden, die die Patient*innen für sich mitnehmen und in ihrem Alltag nach eigenem Bedarf z.B. vor herausfordernden Situationen nutzen können. Damit wird das Selbstmanagement der Patient*innen nachhaltig gefördert. Hierzu gehören z.B. Atemübungen. In Stresssituationen können Mikropausen von ca. 2 bis 5 Minuten durch Einsatz jeweils eines der 5 Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken) im Vagus-Ast aktiviert werden, zu einer Entspannung führen und den Geist beruhigen [8,9].
Im experimentellen Stadium befindet sich die Systolische Extinktionstherapie, dabei werden die Barorezeptoren der Karotis berührt, um die Schmerzwahrnehmung wieder zu normalisieren [10].
Medikamentöse Therapie
Es gibt derzeit kein zugelassenes Medikament für Fibromyalgie. Laut den medizinischen Leitlinien sind die Wirkstoffe Amitriptylin, Duloxetin und Pregabalin im Off-Label-Use empfohlen [2]. In verschiedenen Studien und Arbeiten als auch in klinischen Erfahrungen hat sich gezeigt, dass nur ca. 30% der betroffenen Patient*innen eine Wirksamkeit und akzeptable Verträglichkeit verspüren. Viele Patient*innen setzen die Medikamente wegen mangelnder Wirksamkeit und der Nebenwirkungen wie Benommenheit, Sehstörungen und gastrointestinale Beschwerden ab.
Low-dose Naltrexon (LDN) ist in der Anwendung bei Schmerzen ein sogenanntes Off-Label-Medikament; deshalb werden die Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen in der Regel nicht übernommen. Es wird in bestimmten Schmerztherapiezentren für Fibromyalgie, CFS und ME (Myalgische Enzephalomyelitis) eingesetzt [11]. Auch eine cannabisbasierte Behandlung ist eine Option und hat eine analgetische und schlaffördernde Wirkung, wobei die Kostenübernahme sehr restriktiv gehandhabt wird [12].
Projekt für Fibromyalgie
In einem speziell für Fibromyalgie-Patient*innen initiierten Projekt wurde mit Ärzt*innen und verschiedenen Therapeut*innen – Physio-, Entspannungs- und Ernährungstherapeut*innen – Behandlungskonzepte für das Fibromyalgie-Syndrom entwickelt. Das Bad Füssinger Institut zur Erforschung von Behandlungsverfahren mit natürlichen Heilmitteln e.V. hat ein Thermalwasserprojekt durchgeführt. Eine Gruppe diagnostizierter Fibromyalgie-Teilnehmer*innen erhielt dabei über drei Wochen wöchentlich je vier Thermal-Bewegungsbäder. Eine Kontrollgruppe – ebenfalls diagnostizierte Fibromyalgie-Patient*innen –, die während der Dauer des Projektes keine Thermalwasser- und sonstigen Wasseranwendungen nutzten, war ebenfalls Teil des Projektes. In dem umfassenden Fallbericht erzielten die Thermalwasser-Teilnehmer*innen eine deutliche Linderung in der Schmerzsymptomatik und eine Erleichterung bzgl. der Begleitsymptome (z.B. Verbesserung der Schlafqualität).
Mit dieser speziell entwickelten Kurmaßnahme wird bei den Patient*innen der Kreislauf der permanenten Schmerzbelastung mit häufigen Begleitsymptomen wie Depressionen und Ängsten durchbrochen. Zusätzlich erhalten die Patient*innen Impulse für ihr Selbstmanagement, um im Alltag durch Bewegung, Entspannung, Stressbewältigung und Ernährung eine Verbesserung im Umgang mit der Erkrankung zu erreichen [13].
Komplementärtherapie
Die Akupunktur ist eine Möglichkeit der Schmerzbehandlung ohne Nebenwirkungen [2]. Für die Patient*innen ergibt sich jedoch eine Abhängigkeit von den Therapeut*innen, die die Akupunktur durchführen müssen. Bei einem Fibromyalgie-Schub ist die Therapie oft eine gute Therapieform. Die Wirkdauer ist von Patient*in zu Patient*in sehr unterschiedlich.
Die Ernährung können die Patient*innen aktiv selbst mitgestalten und dabei schmerzreduzierende Lebensmittel einsetzen und schmerzfördernde Lebensmittel vermeiden. Zur schmerzreduzierenden Kost zählen naturbelassene Lebensmittel mit vielen Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralien, Spurenelemente und sekundäre Pflanzenstoffen) wie Gemüse, Salat und Obst. Zu vermeiden sind eine übermäßige Kohlenhydratzufuhr und Fette, die Arachidonsäure und Transfettsäuren enthalten.
Fazit
Mit der Diagnose Fibromyalgie-Syndrom müssen die Patient*innen Anpassungen in ihrem Leben mittels neuer oder wiederentdeckter Fähigkeiten und Ressourcen vornehmen, um ihren Alltag entsprechend zu adaptieren. Die Basis bildet die Gesundheitsförderung mit Achtsamkeit und Bewegung. Mit Impulsen von Kurmaßnahmen, Psychotherapie und kurzfristiger medikamentöser Therapie sollen sich die Patient*innen im persönlichen Umfeld durch Veränderungsprozesse entsprechend positionieren. Sie müssen schädliche Gewohnheitsmuster aufdecken und diese im ständigen Selbstmanagement anpassen. Ärzt*innen und Therapeut*innen sind die Wegbegleiter für dieses Erkrankung und unterstützen die Patient*innen mit Konzepten der medizinischen Notwendigkeit unter Berücksichtigung der persönlichen Bedürfnisse.
Literatur
1. Nicholas M, Vlaeyen JWS, Rief W et al. The IASP classification of chronic pain for ICD-11: chronic primary pain. Pain 2019; 160: 28–37
2. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145- 004.html) der interdisziplinären Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms“ Stand 03/2017
3. https://www.dgschmerzmedizin.de/versorgung/ dgs-praxisleitfaden/dgs-praxisleitfaden-fibromyalgie/
4. Kinesiophobie Aksaray University Training and Research Hospital Dr. Melek Aykut Selçuk, Aksaray University Training and Research Hospital Last Update Posted : December 19, 2018
5. Tampa-Tabelle; Rusu AC, Kreddig N, Hallner D et al. Fear of movement/(Re)injury in
low back pain: confirmatory validation of a German version of the Tampa Scale for Kine- siophobia. BMC Musculoskeletal Disorders. 2014; 15: 280.
6. Muskeln, Sehnen, Gelenke – Schmerzfrei durch gezielte Bewegungen: Schmerzen verstehen und aktiv werden. Strategien gegen die 34 häufigsten Beschwerden Taschenbuch – 5. Oktober 2022 von. Prof. Dr. med. Hannu Luomajoki, Anna Sievinen ISBN: 978-3-432- 11647-1
7. Glombiewski JA, Bernardy K, Häuser W. Efficacy of EMG- and EEG-Biofeedback in Fi- bromyalgia Syndrome: A Meta-Analysis and a Systematic Review of Randomized Controlled Trials. Evid Based Complement Alternat Med 2013; 2013: 962741
8. Heilen mit der Polyvagal-Theorie: Neuronales Training für Körper, Herz und Hirn Taschen- buch – 12. Mai 2021 von Theo Kierdorf (Hrsg.) (Herausgeber), Prof. Dr. phil. Stephen W. Porges Psychiater und Neurowissenschaftler (Autor) ISBN: 978-3-944476- 39-1
9. Arbeiten mit der Polyvagal-Theorie Übungen zur Förderung von Sicherheit und Verbunden- heit. Vorw. v. Stephen W. Porges Taschenbuch – 19. Januar 2021; Deb Dana ist Therapeutin und Beraterin des Traumatic Stress Research Consortium am Kinsey Institute ISBN: 978-3- 944476-37-7
10. Thieme K, Meller T, Evermann U et al. Efficacy of Systolic Extinction Training in Fibromyalgia Patients With Elevated Blood Pressure Response to Stress: A Tailored Randomized Con- trolled Trial. Arthritis Care Res (Hoboken) 2019; 71: 678–688; Uni Marburg-Studie
11. ICH GCP; US-Register für klinische Studien; Klinische Studie NCT04270877 Fibromyalgie und Naltrexon: Die LETZTE Studie (FINAL) 28. Dezember 2022 aktualisiert von: Karin Bruun Plesner, Odense University Hospital
12. Bialas P, Drescher B, Gottschling S et al. Cannabis-based medicines for chronic pain: indications, selection of drugs, effectiveness and safety: Experiences of pain physicians in Saarland. Schmerz 2019; 33: 399–406
13. Projektbeschreibung bei VSP e.V. (Ver- einigung selbstständiger Physiotherapeuten e.V. Bad Füssing – Bad Griesbach – Bad Birnbach); Bahnhofweg 1; 94060 Pocking; vspev@t-online.de